Wenn man an Rap aus Chicago denkt, dann vielleicht auch im selben Moment an Künstler wie Kanye West oder Chance the Rapper. Beide stellen dennoch nicht unbedingt die Definition der von Conscious- und Drill-Rap gezeichneten Großstadt dar. Was hierzulande überwiegend im Untergrund stattfindet, wird am anderen Ende der Welt gerade wieder immer populärer. Dabei vermittelt Drill-Rap nicht unbedingt gute Laune, sondern stellt im Kern Probleme sozial abgehängter dar. Das Subgenre definiert sich durch die oft simple Darstellung von Gewalt, Waffen, Drogen und dem Leben zwischen Bandenkriminalität – oft am Rande des Existenzminimums. Einschüchterung, Behauptung und Repräsentation des Umfelds überwiegen in den Texten gegenüber der sozialpolitischen Auseinandersetzung der eigenen Umstände, während voluminöse 808’s und dunkle Synthies die nötige Grundlage dafür schaffen und sich zu einem bedrohlich-klingenden Soundkonstrukt zusammenschließen.
Der Chicagoer Jugend neue Aufstiegsmöglichkeiten und alternative Perspektiven aufzeigend, umgeben von der zwischenzeitlich höchsten Mordrate des Landes, schafft sich die Subkultur langsam aber sicher immer weiter ihren Weg in die breite Öffentlichkeit. Gangstarap-Verwandtschaft und Elemente des Dirty South, welcher einst den Nährboden für Trap darstellte, sind genau so Teil von Drill, wie die typisch bedrückende Stimmung, die nach dem Hören entstehen kann. Dennoch genießt das Ganze gerade immer mehr Aufmerksamkeit. Verantwortlich dafür ist vor allem der 20 jährige New Yorker Pop Smoke, welcher am vergangenen Mittwoch im Zuge eines Raubüberfalls auf seinen Wohnsitz in Los Angeles durch mehrere Schüsse getötet wurde.
Der „Plan for transformation“
Drills Ursprung basiert auch auf einem sozialpolitischem Hintergrund: Dem radikalen Umsiedlungsplan namens „Plan for transformation“, initiiert von der Chicago Housing Authority im Jahr 2000. Dieser sah den Abriss von 17.000 sozialen Wohneinheiten und die Umsiedlung ihrer Bewohner in ärmere Viertel im Süden und Westen der Stadt vor: In kürzestem Zeitraum wurden also tausende Geringverdiener-Familien bewegt. Währenddessen versuchte damals das FBI in verstrickte, lokale Gangaktivitäten einzugreifen, was gleichzeitig in heftigen Unruhen resultierte. Die Metropole entwickelte sich damals, vor allem im Süden und Westen zu einem Zentrum der Gewalt. Das Ganze hält bis heute an: In der Heimat Al Capones seien laut der Washington Post 2016 mehr Menschen getötet worden sein, als in Los Angeles und New York zusammen, obwohl die drittgrößte Stadt der U.S.A. weniger Einwohner hat. Und auch vergangenes Jahr seien laut der Chicago Sun Times insgesamt 559 Menschen ermordet worden sein.
Das Ziel vieler Jugendlicher aus „Windy City“ war es dadurch schon immer die eigene Härte zum Ausdruck zu bringen, um ihre Position inmitten des Großstadtdschungels zu festigen. Folglich fanden Drogen, Geld und Gewalt in den oft einschüchternden Texten von Drill-Rappern ihren Platz. Oft geschah das allerdings nur oberflächlich und ohne tiefgreifende Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen, welche die Ursache für die eigenen Umstände waren. Der Fokus lag auf relativ simpler Repräsentation der eigenen Umgebung. 2012 heißt es in der britischen Tageszeitung The Guardian: „(…)nihilistic drill reflects real life where its squeaky-clean hip-hop counterparts have failed.“
Produzenten wie Young Chop, Zaytoven, Drumma Boy und Lex Luger gelten ebenso als treibende Größen des Drill-Movements, wie die Orginatoren Pacman, Lil Durk, Bump J oder Chief Keef, welche damit allesamt die Antithese zum inhaltstiefen Conscious-Rap eines Common aus Chicago darstellten.
Von Chicago nach Brooklyn
Knapp 800 Meilen entfernt von der größten Stadt im Bundesstaat Illinois – in New York – wächst momentan eine mit großem Potenzial durchsetzte Drill-Szene heran. Hauptakteur war dabei neben Sheff G, Sleepy Hallow und 22Gz (Mitglied in Kodak Blacks Sniper-Gang) vor allem der 20-jährige Pop Smoke, welcher als einer der spannendsten Newcomer des letzten Jahres gehandelt wird. Am vergangenen Mittwochmorgen wurde der Rapper im Zuge eines Raubüberfalls auf seinen Wohnsitz in Los Angeles durch mehrere Schüsse lebensgefährlich verletzt und war schließlich im Krankenhaus an den Folgen gestorben. Einen Tag vorher erreichte er mit seinem zweiten Album Platz sieben der Billboard 200 Charts.
Pop Smoke, bürgerlich Bashar Barakah Jackson, schaffte es mit seinem im Juli erschienenen Debüt-Projekt „Meet the woo“ Brooklyns Drill-Szene zu repräsentieren wie niemand anderes und berichtet dabei, umgeben von roher Gewalt und Kriminalität, unorthodox über Erfahrungen aus dem New Yorker Großstadt-Chaos. Während das Ganze stimmlich an 50 Cent oder M.O.P. erinnert, bezeichnete die New York Times seine Kunst kürzlich als die „bad-moods-beget-bad-decisions-beget-bad-consequences music“, welche die Weltstadt einst auszeichnete.
Der Sound klingt dabei fast schon angenehm bedrohlich, trägt eine enorme Energie mit sich und vermittelt eine rohe, aggressive Grundstimmung. Verantwortlich für die Produktion fast aller Tracks des Langspielers ist allerdings weder ein Chicagoer, noch ein New-Yorker: 808melo kommt aus dem Osten Londons, sowas wie der Drill-Hauptstadt Europas. Der Produzent hatte bereits im Vorfeld seiner Zusammenarbeit mit Pop Smoke mit den Produktionen zu Headie one’s und RV’s „Know better“ und „Panic Part 3“ von Sheff G auf sich aufmerksam gemacht. Nachgeschmack entsteht allerdings, weil „Dior“, einer der erfolgreichsten Tracks seines Debütprojekts, einen stumpfen, homophoben Einzeiler mit sich bringt.
Welcome to the Party
Mit „Welcome to the Party“ schaffte Pop Smoke es jedenfalls Drill-Rap mit fast schon tanzbaren Elementen zu füllen und im April einen der New Yorker Rap Hymnen des Jahres zu liefern, für dessen Entstehung er laut eigenen Aussagen nur eine knappe halbe Stunde seiner Zeit brauchte. Das Video hat stand heute über 26 Millionen YouTube Aufrufe zu verbuchen. Fast schon logische Konsequenz also, dass Grime-Superstar Skepta ihn auf Teile seiner „Ignorance Is Bliss“ Tour mitnahm und neben Nicki Minaj ebenfalls einen Remix-Vers für sein erstes Album beisteuerte.
„My PTSD startin‘ to kick in so I gotta get high / Trey shot that ni**a out my car so now I gotta get low“
Seine Jugendjahre bezeichnete Pop Smoke immer wieder als risikoreich. Laut eigenen Aussagen durfte er bereits ab der achten Klasse nicht mehr die heimische Schule besuchen, weil er statt Büchern eine Waffe mit zum Unterricht brachte. Außerdem musste der in Brooklyn zur Welt gekommene Rapper bis vor kurzem einen elektronischen GPS-Tracker am Knöchel tragen, weil er mit einer Waffenüberlieferung im Zusammenhang stand. All diese Erinnerungen und Erfahrungen blieben oft nicht ohne schwere Konsequenzen, welche er in „PTSD“ (kurz: posttraumatic stress disorder) oder auf deutsch PTBS (posttraumatische Belastungsreaktion) verarbeitete. In dem Track behandelte Pop Smoke die Risse seiner Psyche, ohne dabei im Soundbild einzuknicken oder Kompromisse einzugehen. Die schonungslose Darstellung bildete damit die Grundlage seiner Authentizität.
Am 7. Februar erschien mit „Meet The Woo 2“ die 13 Track starke Fortsetzung seines Debüt-Mixtapes. Features kommen hierbei von Quavo, A Boogie wit da Hoodie, Lil Tjay und Fivio Foreign. Das Ganze klingt sowohl im Stimmeinsatz, als auch im Sound noch ausgereifter als sein Debüt. Textlich hinterlässt der Nachfolger, ähnlich wie sein Vorgänger, zeitweise ein paar Fragezeichen – auch, weil seine Musik nicht darauf ausgelegt ist, lyrisch einwandfrei zu sein, sondern im Gesamtkontext zu funktionieren – und das tut sie. Der meist-erwähnte, öffentliche Hauptkritikpunkt seines ersten Projekts war, dass die Songs zu spärlich, zu überladen und zu ähnlich klingen würden. Mit diesen kann Pop Smoke zumindest teils brechen: Inhaltlich dreht sich auch hier wieder viel um Aggressionen, Gewalt und der Repräsentation eigener Erfahrungen, allerdings klingen die Tracks diverser (auch, weil die Features größtenteils stimmig wirken, „Meet The Woo“ kam komplett ohne aus) und der Langspieler wie die logische Erweiterung Pop Smokes.
Im März sollte es für ihn und sein Team dann auf Tour gehen – unter anderem mit Halt in Los Angeles, Chicago, Manchester und London. Im Juli sollte er außerdem auf dem diesjährigen Splash! Festival auftreten.
Auf dem kurz vorm Jahreswechsel erschienenen Cactus Jack Records Album „Jackboys“ stellt Pop Smoke außerdem neben Travis Scott den Hauptprotagonisten des Outro Tracks „Gatti“ dar. Produziert wurde dieser unter anderem vom besagten 808melo. Auch mit Luciano war wohl ein gemeinsamer Song in Arbeit. Vergangenen Freitag hatte dieser mit „Mios in Bars“ eine Single veröffentlicht, die Drill-Rap erstmalig in den deutschen Mainstream brachte.
Mit Pop Smoke starb diese Woche wieder ein Künstler, der gerade erst am Anfang seiner Karriere stand und unglaublich großes Potenzial mitbrachte. In seinem jungen Alter hat er es bereits geschafft die Drill-Kultur in New York gewissermassen neu zu erfinden, Drill-Soundästhetik zu verkörpern, etwas eigenes zu schaffen und schließlich Millionen dafür zu begeistern. Nicht umsonst wurde sein Standpunkt mit dem von 50 Cent am Anfang dessen Karriere verglichen. Er war einer der talentiertesten und spannendsten Rapper dieser Tage.
Rest in Peace, Bashar Barakah Jackson.
London als Drill-Zentrum Europas
Gewalt stellt nicht nur ein prägendes Element und einen Teil des Bodens der Drillkultur dar, sondern ist natürlich auch in allen anderen Teilen des Globus allgegenwärtig. Auch in Europa, vor allem in London und Teilen Irlands, gewinnt Drill immer mehr an Relevanz. U.K.-Drill stand die letzten Jahre dabei zum wiederholten male im Zentrum einer Debatte über den rasanten Anstieg von Messergewalt in England und dessen Nachbarn Wales. Ein Großteil der Opfer bestand aus Teenagern. Die zuständigen Behörden machten es sich einfach – und Drill-Rap für das Problem verantwortlich.
Dass in den letzten Jahren immer mehr Jugendzentren in der Hauptstadt schließen mussten, Schulen immer häufiger Schüler ausschließen und über 35% der PoC Community in London gering-verdienend ist, wird von den Behörden ebenso wenig als Ursache für die ansteigende Gewalt beachtet, wie der tief verankerte, strukturelle Alltagsrassismus oder der Fakt, dass die Hauptstadt in den letzten zehn Jahren 20.000 Polizeistellen streichen musste. Die harte Darstellungsweise von allgegenwärtigen Dingen ist viel mehr die logische Konsequenz die daraus entsteht: Drill bietet das Ventil, um auf die eigenen Umstände aufmerksam zu machen. Auch deshalb fand die Subkultur am Rande der britischen Großstadt ihr europäisches Zuhause.
„Wer bringt besser Drill als Ich? Keiner!“
Mit diesen Worten erschien vor einem knappen halben Jahr Osama das erste mal auf der Bildfläche. Das Video zu „Gangshit“ bringt authentische Drill-Attitüde inklusive eingängigem Sample, drückender 808, und seiner charakteristisch tiefen Stimme. Der Berliner ist Teil einer momentan sowieso aufstrebenden, dynamischen Untergrundszene, welche sich in der Hauptstadt vor allem im letztem Jahr stark entwickelt hat.
Während Osama weniger von detaillierter Waffengewalt spricht und mehr represented, erzählt KDM Shey auf der von Asadjohn produzierten „Subudrill EP“ vor allem von Gewaltfantasien und Mord. Das Ende November erschienene, vier Track starke Release könnt ihr hier hören:
Auch hierzulande ist Drill-Rap dementsprechend nicht unentdeckt: Während in Brooklyn Drill-Rapper momentan zu Stars reifen, ist das Ganze in Deutschland allerdings trotzdem noch nicht ganz bei der breiten Masse angekommen. Luciano schaffte es mit seiner letzten Single Drill erstmals in den Mainstream zu bringen. Die Subkultur hat nicht nur in New York ein neues Zuhause gefunden, wo eine aufstrebende Szene um den kürzlich verstorbenen Pop Smoke für ordentlich Aufmerksamkeit sorgt, sondern auch in London, Irland und Australien. Inwiefern sich Drill-Rap jetzt weiterentwickelt, ist nicht nur spannend, sondern bleibt auch 2020 weiterhin abzuwarten.